Delphi liegt an einem Berghang oberhalb des Pleistos-Tals auf etwa 500 m ü. NN. Bei diesem Tal handelt es sich um einen Grabenbruch, ein Rift-Tal. Es entsteht, wenn eine Kontinentalplatte auseinanderbricht und die zwei Teile sich voneinander entfernen. In unserer Unterkunft in Neu-Delphi hatten wir Balkons mit einem wunderschönen Ausblick über die Ausläufer des Tals bis hin zum Golf von Korinth.
Ich hatte noch keine konkreten Pläne, aber ich wollte nicht wieder zurückfliegen, ohne wenigstens ein bisschen die Natur der Region erkundet zu haben. Eines Abends schließlich saßen wir auf der Terrasse eines Restaurants, es war schon spät, nach 22 Uhr. Ich unterhielt mich mit zwei Freunden, als einer von uns - ich weiß nicht mehr, wer - eine verrückte Idee hatte. Spontan planten wir, am nächsten Morgen gegen 4 Uhr aufzustehen, um anschließend anstelle des Frühstücks - und noch vor Beginn des Tagesprogramms um 9 Uhr - die 500 Höhenmeter hinab zum Talboden zu laufen und wieder hinauf. Da es schon spät war, würden wir wenig Schlaf bekommen, aber um die Tour vor dem Treffpunkt zu schaffen und idealerweise auch nicht den ganzen Aufstieg unter der heißen Sonne machen zu müssen, war es nötig, so früh aufzubrechen. Keiner von uns hatte Bedenken. Wir brauchten Abwechslung und wollten das durchziehen.
Gegen halb fünf brachen wir mit leichtem Gepäck auf. An Fotoausrüstung hatte ich auf die Exkursion ohnehin nur eine Kamera und zwei kleine Objektive mitgenommen. Die Nacht war sternenklar. Der Vollmond warf Schatten und war so hell, dass wir die Taschenlampen nur kurz in einem bewaldeten Abschnitt brauchten. Die Strecke hatten wir nur geschätzt und die Wegbeschaffenheit kannten wir im Voraus nicht. Als wir uns immer weiter von Delphi entfernten und immer tiefer ins Tal hinabstiegen, wurde uns klar, dass es eine Herausforderung wird, bis 9 Uhr zurück zu sein.
Der Abstieg ins Tal war stellenweise schwierig, aber wir zogen ein rasches Tempo durch. Dennoch blieb Zeit für die eine oder andere kurze Trinkpause, und für mich zum Fotografieren. Über den Bergen im Osten wurde es allmählich heller - die ersten Zeichen der Morgendämmerung. Kleinen Trampelpfaden folgend liefen wir immer weiter. Bald hatten wir etwa zwei Drittel des Abstiegs geschafft. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Sonne hinter den Bergen hervorkommen würde.
Und dann sah ich mein Motiv.
Im Osten war ein Hügel, darauf standen zwei Bäume wie ein zusammengehöriges Paar. Und wenn ich noch ein paar Meter weitergehen würde, würden die Bäume direkt vor dem Sonnenaufgang stehen. Ein schönes Motiv. Aber auch noch mehr als das.
Ich bin ein großer Tolkien-Fan. Natürlich habe ich alle Geschichten gelesen (damals noch nicht ganz, aber die meisten).
"[...] upon the mound there came forth two slender shoots; [...]. Under her song the saplings grew and became fair and tall, [...]; and thus there awoke in the world the Two Trees of Valinor." Die beiden lichtspendenden Bäume von Valinor, golden und silbern, die später zu Sonne und Mond werden. Und dann kam auch noch kurz vor der Exkursion die Serie "Rings of Power" heraus - am Tag vor dem Abflug hatte ich noch den Prolog gesehen, der genau diesen Hügel und die zwei Bäume zeigt.
Ja, die zwei Bäume von Delphi sind nicht golden und silbern, und sie leuchten auch nicht selbst. Aber natürlich habe ich als Tolkien-Fan in dem Moment an Valinor gedacht. Es sind immerhin zwei Bäume auf einem Hügel im Osten, und mit der aufgehenden Sonne hinter ihnen haben sie schon einen gewissen Lichtschein. Und auch, dass im selben Moment über den Bergen im Westen der Vollmond, der die ganze Nacht hell geschienen hatte, unterging, passte ins Bild.
Das sind also die beiden Stories hinter diesem Bild. Tolkiens Geschichte einer mythischen Insel, und unsere eigene Geschichte.
Der Rest sei kurzgefasst, da zu diesem Bild damit alles gesagt ist: Auf der Talsohle zu stehen war fantastisch, die von Höhlen durchsetzten Felswände unter Delphi beeindruckend. Dank der Topographie hatten wir zumindest zum Teil Schatten, den größten Teil des Rückwegs aber brannte die Sonne wie befürchtet auf uns herab. Wir kamen schließlich um 8:45 Uhr wieder in Delphi an und konnten die anderen noch beim Frühstück überraschen.